Beitrag von Steffen Geißler:
Die Ayurvedamassage hat im Laufe der wenigen Jahrzehnte, die sie in Europa angewandt wird, eine enorme Entwicklung durchgemacht.
Als die ersten Berichte über den Ayurveda in den Westen gelangten, handelte es sich weniger um Fachbeiträge als vielmehr um die medientaugliche Darstellung einer exotischen Heilkunst. Begriffe wie „Harmonisierende“ bzw. „Sanfte Medizin“ wurden und werden verwandt, um den Ayurveda zu beschreiben. In Bezug auf das Therapieziel sind diese Begriffe auch zutreffend. Die Behandlungen dienen der Harmonisierung der Körperfunktionen und stellen im Gegensatz zur allopathischen Medizin und deren Nebenwirkungen tatsächlich eine „Sanfte“ Therapie dar. Die Maßnahmen selbst sind jedoch nicht unbedingt harmonisch oder sanft. Man denke nur beispielsweise an Vamana – Erbrechen (Pancha Karma).
Das westliche Bild vom Ayurveda
Geprägt durch die Medien erfuhren die Menschen in Europa von der sanften Heilkunst aus Indien. Wie selbstverständlich wurden auch die therapeutischen Maßnahmen mit dem Zusatz „sanft und harmonisch“ versehen und so ein sehr angenehmer Gesamteindruck vom Ayurveda vermittelt. Für diese Darstellung eigneten sich vor allem die Bereiche Massage und Ernährung. Bei Umfragen in der Bevölkerung „wissen“ mittlerweile die meisten Menschen: „Ayurveda ist doch das mit der gesunden Ernährung, den Massagen und dem Öl auf die Stirn.“
Man findet heute kaum noch Frauenzeitschriften ohne ein leckeres „ayurvedisches“ Kochrezept. Dass ein Gericht nicht zu einem ayurvedischen Essen wird, nur weil Dal oder Ghee dabei ist und beispielsweise Ingwer oder Kardamom zum Würzen verwandt werden, weiß der Großteil der Bevölkerung nicht. Ihnen fehlt das Wissen darüber, dass unterschiedliche Menschen unter ayurvedischen Gesichtspunkten auch unterschiedliche Nahrungsmittel und Gewürze zu sich nehmen sollten. Für sie ist ein Rezept ayurvedisch, weil es so drüber steht.
Ein weiteres sehr „repräsentatives Bild“ zeigt eine hübsche Frau, die sanft massiert wird oder einen Stirnguss mit Öl erhält. Tatsächlich macht diese Darstellung jedoch nur einen verschwindend geringen Teil des Ayurveda aus. Dieses Bild spiegelt vielmehr den Bedarf der westlichen Welt nach Harmonie und sanfter Berührung wieder. Der ursprüngliche Anspruch des Ayurveda tritt dabei in den Hintergrund.
Loslösung der Massage aus dem Konzept der ganzheitlichen ayurvedischen Behandlung
Ursprünglich war die ayurvedische Massage keine allein stehende therapeutische Anwendung. Sie wurde im Rahmen der ganzheitlichen Ayurveda Therapien wie der Pancha Karma Therapie beispielsweise zur Unterstützung der Reinigung eingesetzt. Diese kräftig reibenden Massagen wurden von Ayurveda Ärzten angeordnet und vom ihrem technischen Hilfspersonal, welches keine medizinischen Kenntnisse besaß, durchgeführt.
Als die ayurvedische Massage durch die Medien im Westen bekannt wurde, fehlte es an ausgebildete Ayurveda Ärzten. Dafür gab es aber Masseure, die sich zum Teil in Indien die Grundzüge der Ölmassage angeeignet hatten. Sie waren auf sich allein gestellt und konnten daher nicht auf das eigentliche Repertoire der Ayurvedamedizin zurückgreifen.
Von der therapeutischen Anwendung zur Wellness Massage
Die Masseure waren den Erwartungen ihrer potentiellen Klienten nach sanfter, harmonischer Berührung ausgesetzt und passten ihre Massagen an die Bedürfnisse des Westens an.
Der Umstand, dass in den klassischen Texten des Ayurveda zwar das Einreiben mit Öl – Abhyanga, aber kein festgelegter Ablauf erwähnt wird, ließ den Masseuren der ersten Stunde freie Hand bei der „Entwicklung“ ihrer Ayurvedamassage. Die Unwissenheit einiger Masseure und die rein technische und sensorische Betrachtungsweise der Massagestriche prägten diese Neuentwicklungen. Es entstand die Sanfte Abhyanga – das sanfte Einreiben mit Öl.
Heute findet man daher die unterschiedlichsten Variationen, in denen man häufig andere Massageformen wieder erkennt, nun unter der Verwendung von Öl. In manchen Fällen basieren diese neuen Ayurvedamassagen auch weiterhin auf den eigentlichen Prinzipien der klassischen Ayurvedamassage. In anderen Fällen fielen auch die wesentlichen ayurvedischen Prinzipien der Neuschöpfung zum Opfer.
In beiden Fällen entpuppte sich die Ölmassage als ein Segen für viele Menschen, die unter dem Stress, der Schnelllebigkeit und Anonymität der modernen westlichen Welt leben und leiden. Die Verwendung eines schweren Massagemittels wie Öl, sowie die sanfte und harmonische Berührung in der Massage, ist ausgezeichnet geeignet, um genau dem entgegen zu wirken. Die gesundheitlichen Problematiken der Menschen werden hierbei nach ayurvedischen Gesichtspunkten zunächst einmal vernachlässigt. Indirekt wirkt sich aber auch diese Form der Massage über ihren Effekt auf die Psyche und die Beruhigung des Nervensystems positiv auf verschiedene gesundheitliche Probleme aus. Leider können aber vor allem bei mehrtägigen Massagekuren erst auf Grund eines falschen Massagemittels und der dämpfenden Wirkung gesundheitliche Probleme entstehen oder verstärkt werden.
Ayurveda Tourismus
Auch die Tourismusindustrie machte sich die Entwicklung des Ayurveda zu nutze. Vor allem auf Sri Lanka und in Indien profitiert heute die Touristikbranche vom Ayurveda Trend. In beiden Länder ist der Ayurveda heimisch. Da die Erwartungen der Touristen jedoch vom klassischen Ayurveda abwichen, sahen sich viele Reiseunternehmen und Hotels dazu gezwungen, selbst im Land des Ayurveda eine verwestlichte Version dieser Heilkunst anzubieten. Die Kompromissbereitschaft der Veranstalter reicht hier von klassisch ayurvedischer Therapie über medical wellness bis hin zur Körperverletzung – nach ayurvedischen Gesichtspunkten (z.B. eine Ganzkörpermassage in praller Sonne am Strand).
Beginn der Ayurvedamassage Ausbildungen in Europa
Als der Bedarf nach Ausbildungen im Bereich Ayurvedamassage stieg, waren es vor allem die Masseure der ersten Stunde, die die Dozentur aufnahmen. Die 1. Generation dieser Ausbildungen lernte häufig schon die neue, sanfte Abhyanga, ohne das Original kennen gelernt zu haben. Mit bestem Wissen und Gewissen praktizierten diese Menschen und wurden teilweise ihrerseits Dozenten. Auf diese Weise entstand im Laufe weniger Jahrzehnte ein neuer Zweig im Wellnessbereich, der Zweig der Ayurvedamasseure.
Da es kein unabhängiges Gremium gibt, das eine Ausbildungsnorm im Bereich des Ayurveda definiert und damit Qualität gewährleisten kann, finden sich unter den Ayurveda Masseuren unterschiedlich gut ausgebildete Menschen. Einige von ihnen praktizieren ein Massagesystem, das auf den Grundprinzipien der klassischen Ayurvedamassage aufbaut, andere eines, das mit diesen Prinzipien nicht mehr viel gemeinsam hat.
Hier ist unter anderem auch der Stirnguss anzusiedeln, der fast ein Muss im Wellnessbereich darstellt. Ursprünglich handelt es sich beim Shiro Dhara um eine sehr intensive Behandlungstechnik, mit der man durch die Verwendung spezifischer Flüssigkeiten beispielsweise auf das Nervensystem einwirken kann. In Europa wird der Stirnguss im Wellnessbereich zur Entspannung genutzt. Dazu werden häufig Substanzen wie warmes Sesam- oder gar Sonnenblumenöl verwandt. Diese Öle sind verhältnismäßig günstig und leicht zu bekommen. Über die möglichen negativen Auswirkungen dieser Substanzen und der meist zu hohen Temperatur sind offensichtlich die wenigsten Wellness – Therapeuten in ihrer Ausbildung informiert worden.
Aufklärung und Qualitätsbewusstsein
Im Zuge der Popularisierung beschäftigten sich in den letzten Jahren immer mehr medizinisch bzw. therapeutisch engagierte Menschen mit dem klassischen Ayurveda. Ihnen sind diverse Fachartikel und Berichte zu verdanken, die den Ayurveda in seinem ganzen Umfang darstellen. Auf Grund dessen vollzieht sich langsam auch ein Wandel im Bewusstsein des Klientels. Dieser Wandel ist begleitet von einer Erwartungshaltung, die über die entspannende Wirkung der Massage hinausgeht. Die Menschen erwarten mittlerweile, dass sich mit der Ayurvedaanwendung auch ihre körperlichen Beschwerden lindern lassen.
Diese Entwicklung zieht ebenfalls einen Wandel im Bewusstsein der Ayurvedamasseure nach sich. Zum einen erwartet das Klientel mehr von ihnen als zuvor, zum anderen werden sich viele Ayurvedatherapeuten der beschränkten Wirkungsweise ihrer Arbeit bewusst.
Der Ruf nach Authentizität wird laut.
Diese Entwicklung spüren auch die Ayurveda Institute. Wer heute eine Ausbildung zum Ayurveda Masseur beginnt, erwartet mehr als nur zu lernen wie man jemanden mit Öl einschmiert. Die Interessenten erwarten mehr, als dass der Patient entspannt hinausgeht. Sie möchten mit ihrer Behandlung im Sinne des Ayurveda wirkungsvoll tätig sein.
Diese Erwartungshaltung von ausbildungsinteressierten Menschen ist ein wesentlicher Bestandteil des Konkurrenzkampfes der zahlreichen Ayurveda Institute. Das Resultat ist, dass sich die Institute mehr und mehr um Authentizität bemühen müssen.
Fortbildung und Spezialisierungen
Auf dem Gebiet der Wellnessmasseure ist ein Trend in die therapeutische Richtung zu verzeichnen. Aus diesem Grund bilden sich viele Ayurvedamasseure fort und spezialisieren sich. Einige suchen die Zusammenarbeit mit entsprechenden Ärzten, andere werden Heilpraktiker, um selbst den Ayurveda ganzheitlich anwenden zu dürfen.
Die Spezialisierung auf die Behandlung des Bewegungsapparates stellt den zur Zeit deutlichsten Trend dar.
Im Grunde hat jeder Klient der zu einer Ayurvedamassage kommt auch irgendwo Beschwerden mit dem Bewegungsapparat und erhofft sich eine Verbesserung dieses Zustandes.
Die Ayurvedamassage vermag Beschwerden des Bewegungsapparates, die auf systemischen Störungen beruhen, günstig zu beeinflussen. Das Gebiet der durch Unfälle, Über- und Fehlbelastungen erworbenen orthopädischen, neurologischen und traumatischen Beschwerden deckt der Ayurveda aber nur sehr unzureichend ab.
Dieser Umstand sorgte dafür, dass an einigen Instituten Behandlungstechniken aus der Physiotherapie, Akupressur, Cranio-Sakralen Therapie, etc. in die Ayurvedamassage integriert und unseriöserweise unter dem Namen Ayurveda- oder Marma-Therapie angeboten werden.
Natürlich kann es sinnvoll sein, bei einer Behandlung verschiedene Therapieformen mit einzubeziehen. Hier liegt aber auch eine große Verantwortung. Die Authentizität und Essenz der einzelnen Heilkünste sollte nicht dem Ego von „Ayurveda Neuschöpfern“ zum Opfer fallen. Anderenfalls verliert der Ayurveda dadurch früher oder später seine Glaubwürdigkeit.
Hier bietet die Kalari Tradition ein authentisches, auf den Bewegungsapparat spezialisiertes und ganzheitliches Behandlungsspektrum. Beide Heilkünste, die Kalari Therapie so wie der Ayurveda, stammen aus Indien und arbeiten mit den gleichen Kräutern und Mitteln, wenn auch mit unterschiedlicher Zielsetzung.
Aus diesem Grund bilden sich zunehmend mehr Ayurvedamasseure, die sich auf den Bewegungsapparat spezialisieren wollen, in der Kalari Therapie fort. Einen wesentlichen Bestandteil der Kalari Therapie stellt die traditionelle Marma Therapie dar. Das hier vermittelte Wissen befähigt eigenständig, von der Gesundheit abweichende Zustände des Bewegungsapparates und systemische Störungen zu erkennen und eine adäquate Behandlung mit kalarispezifischen Anwendungen durchzuführen. Da die Kalari Therapie einen anderen Behandlungsansatz hat als die moderne Medizin, ist sie sowohl für Angehörige der medizinischen Heilberufe, als auch für nicht medizinisch arbeitende Menschen von besonderem Interesse.
Qualitätssicherung
Der klassische Ayurveda sowie die klassischen Kalari Therapie sind sehr wertvolle und ausgezeichnete Medizinsysteme. Es wäre begrüßenswert, wenn die Authentizität und Qualität dieser beiden Medizinsysteme gewahrt bliebe.
Auf dem Ayurveda Sektor lässt sich dies auf Grund der bereits existierenden zahllosen Anbieter mit sehr unterschiedlicher Qualität und Moral, sehr schwer bewerkstelligen.
Auf dem Kalari Sektor stellt sich dies momentan noch einfacher dar. Die Kalari Tradition Südindiens ist sehr verschlossen. Der traditionelle Weg ist mühsam und erstreckt sich über viele Jahre (Siehe Artikel 1. Teil: Die Entwicklung südindischer Ölmassagen). Es gibt daher nur wenige Menschen außerhalb Keralas, die das weite Feld der Kalari Therapie ausreichend beherrschen, um es vermitteln zu können und zu dürfen. Sie sind durch ihren Werdegang mit der Kalari Tradition verwurzelt und werden daher auch die Authentizität dieser Heilkunst wahren.
Indische Massagen und Körpertherapie im modernen Gesundheitssystem
Für eine mögliche Akzeptanz und die Integration des Ayurveda und Kalari Chikitsa in unser bestehendes Gesundheitssystem ist eine Norm und die Einrichtung einer unabhängigen Kontrollinstanz unerlässlich. Es bleibt daher abzuwarten, ob sich auf dem Gebiet der indischen Massage- und Körpertherapie Ausbildungsstandards durchsetzen werden. Bei der derzeitigen Entwicklung unseres Gesundheitswesens ist es jedoch fraglich, ob überhaupt mit der weiteren Aufnahme alternativer Heilmethoden in den Leistungskatalog der Krankenkassen zu rechnen ist. Die Entwicklung geht immer mehr hin zur finanziellen Eigenbeteiligung der Patienten, so dass der Schritt zur vollständig selbst getragenen Behandlung immer kleiner wird.
Derzeit besteht das Klientel der indischen Massage- und Körpertherapie vor allem aus Patienten mit ausreichend finanziellen Möglichkeiten und denjenigen, die bereits eine Odyssee an herkömmlichen Therapieformen ohne Erfolg durchlaufen haben. Bei letzteren Patienten können wir davon ausgehen, dass die Problematik eher komplex und schwer zu therapieren ist. Ansonsten hätte bereits eine der vorherigen Therapieformen Heilung oder zumindest signifikante Verbesserung gebracht. Um dem Anspruch der indischen Massage- und Körpertherapie in Bezug auf seine Wirksamkeit gerecht zu werden, bedarf es daher ohnehin eines hohen Niveaus, gleichgültig, ob dieser offizielle Anerkennung findet, oder nicht.
Autor:
Steffen Geißler, Physiotherapeut, Mitbegründer und Dozent des Kalari Kendram für Kalarippayat, Kalari Chikitsa, Marma Chikitsa und Ayurveda. Steffen Geißler entdeckte `93 auf der Suche nach den Ursprüngen der Kampfkünste die Kalari Tradition in Indien.
Nach seinen mehrjährigen Aufenthalten in Indien eröffnete er als offizieller Repräsentant der Kerala Kalarippayat Academy (Kannur, Kerala / Indien) den Kalari-Hamburg, ein Ausbildungsort für Kalarippayat und Kalari Chikitsa. In seiner Tätigkeit als Physiotherapeut hat er sich besonders auf die Therapien des Kalari Chikitsa, Marma Chikitsa und Ayurveda spezialisiert. Er vereint das moderne Wissen der Physiotherapie, manuellen Therapie und Applied Kinesiology mit der traditionellen Heilkunde der Kalaris. In den letzten Jahren arbeitete Steffen Geißler in verschiedenen Praxen und Reha-Zentren. Darüber hinaus gibt er seine Erfahrungen in Seminaren und Ausbildungen auf internationaler Ebene weiter.
Kalari-Zentrum, Physiotherapie und Naturheilpraxis Geißler
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